Sandra Franz leitet die Villa Merländer in Krefeld. Hier erfahren Besucher viel über NS-Vergangenheit der Stadt. Auch viele Schulklassen besuchen diesen Ort, an dem die Mitarbeiter nicht nur die jüdische Geschichte und Judenverfolgung in Krefeld dokumentieren,  sondern Informationen über alle Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung sammeln. Die Villa Merländer hat Kooperationen mit einigen Schulen – auch mit dem Berufskolleg Vera Beckers.

Der Politik- und Journalismuskurs der 13. Klassen des Beruflichen Gymnasiums für Gesundheit wollte von Sandra Franz wissen, ob sie und ihre Kollegen Judenfeindlichkeit schon erlebt haben, was sie dazu sagt, dass sich Corona-Demonstranten mit Widerstandskämpfern des Dritten Reichs vergleichen und wie man es schafft, die Erinnerung lebendig zu halten, wenn es einmal keine Zeitzeugen mehr gibt.

Frau Franz, der Antisemitismus, also der Judenhass oder die Judenfeindlichkeit, nimmt in Deutschland immer mehr zu. Spüren Sie das als Leiterin der NS-Dokumentationsstelle Villa Merländer in Krefeld auch?

Es gibt bei uns in der Villa Vorfälle wie zum Beispiel der Gebrauch des Wortes „Jude“ als Beleidigung. Dies stellt aber vermutlich eher den gesellschaftlichen Wandel dar, als ein geschlossenes antisemitisches Weltbild der Jugendlichen. Außerdem ist es schon vorgekommen, dass Hakenkreuze ins Gästebuch der Villa gezeichnet wurden, vermutlich eher als Provokation und nicht aus tatsächlichen antisemitischen Gründen. Massiver, ernst zu nehmender Antisemitismus hingegen ist in der Gedenkstätte so noch nicht passiert.

Vereinzelt hören auch wir Aussagen wie:  „Alle Juden sind doch reich, das wird man doch wohl mal sagen dürfen, oder?“ Und Kollegen aus KZ-Gedenkstätten berichten von massiven antisemitischen Angriffen und richtig heftigen Vorfällen. Da haben wir natürlich die Sorge, dass so etwas auch in lokalen Gedenkstätten wie unserer irgendwann passiert.

Finden Sie, man sollte das Wort „Jude“ nicht mehr benutzen, da es oft als Beleidigung gebraucht wird?

Natürlich ist das Wort „Jude“  an sich kein Schimpfwort. Es ist überhaupt kein Problem, von Juden zu sprechen, wenn wir gleichzeitig auch von Christen, Muslimen, Buddhisten sprechen. Wenn wir aber in der Sprache unterscheiden zwischen Deutschen und Juden, dann haben wir ein Problem. Hier wird das Wort „Jude“ genutzt um jemanden zu beschreiben, der nicht zur Gruppe gehört. Das nennt man „Othering“. Und natürlich ist es auch hochgradig problematisch, das Wort „Jude“ als Schimpfwort zu benutzen.

Die Villa Merländer bietet seit langem Führungen für Schulgruppen an. Wie ausgeprägt ist denn das Vorwissen der Schüler*innen?

Das ist sehr unterschiedlich. Ich habe in den Gruppen immer jemanden erlebt, der alles weiß, was mich hoch beeindruckt. Schwierig wird es dann, wenn einige Schüler wenig oder gar nichts wissen und die Lehrkräfte sagen, dass es peinlich wäre, da die gesamte Klasse dies längst aus dem Unterricht wissen müsste. Das ist für uns schwierig, weil es bei den Schüler*innen direkt einen Druck erzeugt und die weitere Gesprächsatmosphäre verändert. Ich merke auf jeden Fall, ob das Thema NS-Zeit bereits im Unterricht behandelt wurde. Generell wissen die Jugendlichen heute aber mehr über die verschiedenen Opfergruppen als vor 10 Jahren.

Eine junge Frau hat sich vor kurzem auf einer Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung mit der Widerstandskämpferin Sophie Scholl verglichen. Was halten Sie von solchen Vergleichen?

Aus solchen Aussagen spricht ein fundamentales Unwissen über die Geschichte. Jemand, der sich kritisch über die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung äußert, ist in keiner Weise in der gleichen Situation wie eine Widerstandskämpferin im Dritten Reich. Es ist eine unglaubliche Anmaßung, diese Ereignisse und Personen zu instrumentalisieren. Es gibt noch Menschen, die die NS-Zeit erlebt haben. Für sie ist es ein Schlag ins Gesicht, wenn sie von diesem Vergleich hören.

Wie viele solcher Zeitzeugen, die die NS-Zeit noch selbst erlebt haben, gibt es hier in Krefeld noch und mit wie vielen stehen Sie in Kontakt?

Es gibt natürlich nur noch sehr wenige. Viele der Überlebenden haben nach 1945 Deutschland oder auch Europa verlassen. Doch auch zu einigen von ihnen haben wir noch telefonisch Kontakt. Die meisten, die heute noch leben, waren damals Kinder. Diese Menschen können natürlich auch als Zeitzeugen agieren, sie haben aber teilweise unklare Erinnerungen. Ein Zeitzeuge hier in Krefeld beantwortet immer gerne unsere Fragen, doch auch er ist erst im Winter 1944/45 in Theresienstadt geboren und kann deshalb natürlich nur von den Erinnerungen seiner Eltern und Großeltern berichten. Am Holocaust-Gedenktag, dem Tag, an dem Auschwitz befreit worden ist, gibt es den ,,Marsch der Lebenden“ vom Konzentrationslager Auschwitz zum Vernichtungslager Birkenau. Vor drei Jahren waren nur noch 100 Menschen dabei und auch das waren überwiegend Menschen, die damals Babys waren. Dies zeigt, wie klein die Gruppe mittlerweile ist.

Irgendwann werden auch die letzten Zeitzeugen gestorben sein. Wie schaffen Sie es, die Erinnerung ohne sie lebendig zu halten?

Da wir wussten, dass dieser Moment kommen wird, haben wir uns seit Jahrzehnten vorbereitet. Wir haben die Menschen interviewt, haben Video- und Tonbandaufnahmen erstellt und persönliche Dokumente wie Tagebücher gesammelt. Ich denke, dass wir es auf diese Weise in einem gewissen Maße schaffen werden, die Erinnerung der Zeitzeugen zu überliefern.

Stolpersteine sind ja auch eine Möglichkeit der Erinnerung. Auch in Krefeld gibt es etliche vor Häusern, in denen einmal Menschen gewohnt haben, die deportiert wurden oder fliehen mussten. Wie wichtig sind die Stolpersteine?

Sie sind sehr wichtig, weil sich alle, die an der Verlegung eines solchen Steins beteiligt sind, intensiv mit den Menschen und ihrer Biografie auseinandersetzen. Wenn Schulklassen etwa die Verlegung eines Stolpersteins anstoßen, begleiten sie das Projekt. Und meistens fühlen sich die Schüler*innen für ihren Stein verantwortlich, sie putzen ihn sogar. Es entsteht eine emotionale Bindung zu dem Stein. Man kann sich zudem über eine App mit den Geschehnissen in vielen Straßen auseinanderzusetzen und sehen, ob dort einmal ein Mensch gelebt hat, dem etwas Schlimmes widerfahren ist. Auch laufen häufig kleine Kinder an den Steinen vorbei und fragen, wofür sie stehen.

Was sagen Sie zu der Kritik, dass man durch die Steine „mit den Füßen auf den Menschen herumtritt“?

Das Material wurde bewusst so gewählt, dass es umso sichtbarer wird, je mehr Menschen darauf herumlaufen. Die Steine werden also durch Berührung poliert. Es ist gewollt, dass man kurz mit der Sohle darüber geht. Außerdem sagt man: „Um den Stein lesen zu können, muss man sich vor ihm verbeugen.“ Diese Erklärung finde ich persönlich sehr schön.

Denken Sie, dass die sozialen Medien zum Antisemitismus im Allgemeinen beitragen?

Das Internet wird als vermeintlich rechtsfreier und anonymer Raum wahrgenommen und das bedeutet: Viele Menschen können dort ihren Hass loswerden, ohne Konsequenzen zu spüren. Diese antisemitischen, rechtspopulistischen, fremdenfeindlichen und hasserfüllten Einstellungen waren zwar schon vorher da, nur eben im Verborgenen. Und viele Jugendliche haben noch nicht gelernt, zwischen gut recherchierten Informationen und sogenannten Fake News und Verschwörungstheorien zu unterscheiden. Manche Erwachsene lernen das nie. Dort liegt das Problem. Das ist eine Herausforderung für die Schulen, die Eltern und die Jugendlichen selbst. Denn die schnelle Vernetzung über das Internet ist einerseits toll, andererseits können sich Menschen mit rechtsradikalen Gedanken hier viel intensiver austauschen und schneller andere für sich gewinnen.

Der AfD-Politiker Björn Höcke hat einmal gesagt, nur Deutschland habe „ein Denkmal der Schande“. Er meinte das Holocaust-Mahnmal in Berlin. Was sagen Sie zu solchen Aussagen?

Herr Höcke ist ein geschulter Rhetoriker, der solche Aussagen trifft, um zu polarisieren. Ich finde, dass man das als Mahnmal der gesellschaftlichen Verantwortung bezeichnen sollte. Die  Gesellschaft in Deutschland gilt als eine, die sich ihrer eigenen gesellschaftlichen Verantwortung bewusst geworden ist. Offenkundig haben wir nicht alles richtig gemacht, sonst hätten wir das Problem mit dem Rechtspopulismus jetzt nicht hier im Land. Aber wir haben zumindest einen Schritt in die richtige Richtung gemacht. Solche Forderungen wie von Herrn Höcke sind revisionistisch. Er möchte einfach vergessen, was passiert ist. Doch ein Völkermord verjährt nicht und darf nicht in Vergessenheit geraten.

Das Interview führten die Schülerinnen des Politik- und Journalismuskurses der DGS82 und DGS83. Wegen der Corona-Pandemie sprachen Sie per Videokonferenz mit Sandra Franz.

Sandra Franz leitet die Villa Merländer in Krefeld.

Die Villa Merländer in Krefeld: hier erfahren Besucher viel über die NS-Vergangenheit der Stadt.